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Titel
Unbrauchbare Väter. Über Muster-Männer, Seitenspringer und flüchtende Erzeuger im Lebensborn


Autor(en)
Schmitz-Köster, Dorothee
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
160 S., 47 Abb.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Yves Müller, Institut für Landesgeschichte, Halle an der Saale

Bis heute kann der „Lebensborn e.V.“ als ‚unterforscht‘ angesehen werden. Hatte schon Georg Lilienthal in den 1980er-Jahren dieses Forschungsdesiderat beschrieben, scheint sich daran auf den ersten Blick wenig geändert zu haben.1 Eine der wenigen Ausnahmen bilden die Veröffentlichungen von Dorothee Schmitz-Köster.2 Die promovierte Sachbuchautorin und Journalistin ist als Kennerin des Lebensborn bekannt. Nun hat sie erneut eine Arbeit zum Thema vorgelegt. In dieser mit zahlreichen Fotografien illustrierten Untersuchung stehen die biologischen Erzeuger der in den Lebensborn-Heimen zur Welt gekommenen Kinder im Mittelpunkt. Die „Lebensborn-Väter“, als welche die Autorin diese bis dato wenig beachtete Gruppe in dem Komplex des Lebensborn e.V. allgemein benennt, blieben in vielen Fällen anonym – und sind es bis heute, denn die Urkunden der Vaterschaftsanerkennung sind verschollen.

1935 wurde der Lebensborn auf Veranlassung Heinrich Himmlers gegründet und in das Vereinsregister eingetragen. Im Jahr darauf eröffnete das erste Lebensborn-Heim in Oberbayern. Ab 1941 expandierte der Lebensborn vor allem nach Nord- und Westeuropa, aber auch nach Ost- und Südosteuropa. 24 Heime existierten im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten, allein zehn in Norwegen. Nach dem Krieg wurden die Heime geschlossen. Jahrzehntelang wurden die dort geborenen Kinder über ihre Herkunft – und über ihre Erzeuger – im Unklaren gelassen.

Die nun veröffentlichte Studie ist in sechs Kapitel unterteilt. Der Einführung folgt in einem ersten inhaltlichen Kapitel eine Rekonstruktion der männlichen Ermächtigungs-Strategien. Diese lägen zum einen in einer „Forcierte[n] Männlichkeit“ (S. 18), also der Anrufung tradierter Männlichkeitsformen, zum anderen in der „Eroberung des weiblichen Raums“ (S. 28). Demnach ergänzten sich beide zunächst widersprüchlich erscheinenden Strategien.

Auf Grundlage von Statistiken und vom Lebensborn selbst erfassten Datenmaterial kann Schmitz-Köster aufzeigen, welche Berufe und Organisationsmitgliedschaften die Väter aufwiesen und in welchem Verhältnis sie zur Mutter standen (ehelich/unehelich). Im Gegensatz zum vom Lebensborn selbst kolportierten und bis heute standhaft sich haltenden elitären Bild des Lebensborn als Organisation für SS-Angehörige gab nur etwa die Hälfte der Väter eine SS-Zugehörigkeit an. Der interessante Befund, dass von den SS-Mitgliedern mehrheitlich ehelich gezeugte Kinder in den Heimen waren, während bei der nahezu gleich großen Gruppe der „Sonstigen“ eher uneheliche Kinder gezeugt wurden, wird leider nicht weiterverfolgt.

Das umfangreichste, mit „Entwurf einer Typologie“ betitelte Kapitel behandelt zwei männliche Akteursgruppen. Zunächst werden die als „Symbolische Väter“ überschriebenen SS-Funktionäre vorgestellt. Dabei nahm der „Reichsführer-SS“ Himmler eine herausragende Rolle ein, weil er sich vielfach in alltägliche Belange und bei individuellen Problemen einschaltete, oft Patenschaften übernahm und damit zum „strenge[n] und fürsorgliche[n] Vater“ (S. 49) stilisiert werden konnte. Die Heimleiter jedoch waren die tatsächlich zentralen Figuren, wie die Autorin am Beispiel Gregor Ebners erläutert. Der Mediziner Ebner wirkte über viele Jahre als Leiter des ältesten Lebensborn-Heims „Hochland“.

Die männlichen Erzeuger hingegen seien die „Reale[n] Väter“, deren Biogramme Schmitz-Köster aus ihren über viele Jahre geführten Interviews und den zusammengetragenen Korrespondenzen der Frauen und Männer mit dem Lebensborn und anderen SS-Institutionen erstellt hat. Dabei zeichnet sie ein Bild von durch Berufstätigkeit und Kriegseinsatz mehrheitlich abwesenden Vätern, die in der Ehe untreu waren und auch nach Kriegsende und Gefangenschaft oft nicht zur Familie zurückkehrten. Die präsentierten Männer waren als Gestapo- und SD-Funktionäre im „Osteinsatz“ vielfach in die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden eingebunden. Den Kern dieses Kapitels bildet eine Aufschlüsselung in neun Typen von Männern anhand der zahlreichen Einzelbeispiele, wobei allerdings die tatsächliche Beispielhaftigkeit infrage steht, da Schmitz-Köster fast ausschließlich die Fälle von SS-Männern referiert, während sie Männer ohne SS-Zugehörigkeit seltener in den Blick nimmt.

Unter ersteren war auch der SS-Gruppenführer Erwin Rösener, an dem sich beispielhaft die eigentliche Funktion des Lebensborn ablesen lässt. Rösener hatte den Rang eines Höheren SS- und Polizeiführer Alpenland im besetzten Slowenien und gilt als einer der Hauptverantwortlichen für die im Rahmen der „Bandenbekämpfung“ gegen die Zivilbevölkerung begangenen Verbrechen, für die er nach 1945 von einem jugoslawischen Gericht zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. 1942 entband eine Schauspielerin, mit der er eine außereheliche Beziehung führte, ein Kind von ihm in einem Lebensborn-Heim. Rösener war bereits kinderlos verheiratet. Als sich seine Ehefrau von ihm scheiden ließ und auch die Geliebte sich von ihm trennte, war ihm dies alles offenbar sehr peinlich, besonders da er seiner Ansicht nach damit Himmler „Kummer bereiten“ musste (zit. nach S. 87). In diesem wie anderen Fällen diente die Unterbringung der werdenden Mütter in den Einrichtungen des Lebensborn der Geheimhaltung der Schwangerschaften vor den Ehefrauen, der Verwandtschaft oder allgemein der Öffentlichkeit. Deutlich wird, dass der Lebensborn in aller Regel als Agentur der Männer handelte, um ihre oft unehelichen Kinder diskret auf die Welt zu bringen.

Schwieriger gestalteten sich Fälle, in denen sich die Erzeuger entzogen. Eine Entbindung in einem Heim konnte nur stattfinden, wenn die Frauen die Namen der Männer angegeben hatten. Weigerten sich diese, die Vaterschaft anzuerkennen, folgten einerseits Vernehmungen der Frauen, andererseits ausschweifende Korrespondenzen bis hin zu disziplinarischen Maßnahmen. Hier macht Schmitz-Köster neun Strategien der Männer aus, um eine Anerkennung der ungewollten Vaterschaft zu verhindern und einer damit verbundenen Zahlung von Alimenten zu entgehen.

Die letzten Abschnitte dieses Kapitels („Falsche Väter“, „Ersatz-Väter“) widmen sich denjenigen Fällen, in denen Männer als Väter, Adoptivväter oder Pflegeväter an die Stelle der tatsächlichen Erzeuger getreten waren. Die betroffenen Kinder erfuhren durch eigene Recherchen oft erst Jahrzehnte später, wer ihr leiblicher Vater gewesen ist. So wie der Sohn von Hans Adolf Prützmann, der als Höherer SS- und Polizeiführer Ukraine für zahlreiche Verbrechen verantwortlich war und bei Kriegsende in alliierter Kriegsgefangenschaft Suizid beging. So kommt die Autorin anhand ihrer anschaulichen Fallbeispiele zu dem insgesamt beachtenswerten Befund, dass die verschiedenen Väter-Typen zwar für die Kinder und die Mütter merkwürdig abwesend waren. Doch blieben sie gleichzeitig sehr präsent in ihrem in den Dokumenten überlieferten Handeln.

Ein historiografischen Standards genügendes Buch hat Schmitz-Köster jedoch nicht vorgelegt. Schon die ein breites Lesepublikum ansprechende Wortwahl („durchgecheckte Erzeuger“, S. 12; „Lendengott“, S. 96) ist ein wenig gewöhnungsbedürftig. Auch die verwendete Gegenwartsform ist für das geschichtswissenschaftliche Leseempfinden irritierend, wird doch die von Historiker:innen selbstauferlegte Distanz sprachlich allzu sehr durchbrochen. Eine solche Zurückhaltung gegenüber ihrem Gegenstand versucht die Autorin auch erst gar nicht vorzutäuschen. Auf die Nennung von Quellenbelegen und Jahreszahlen verzichtet Schmitz-Köster hingegen. Wo Quellen fehlen, spekuliert die Autorin und gibt dies sogar selbst zu („Alles Spekulation“, S. 135). Mitunter leistet sich Schmitz-Köster fehlgehende Annahmen, wie beispielsweise bei der spekulativen Bemerkung über die im sogenannten „Osteinsatz“ dienstverpflichteten Männer, die seien „vielleicht“ (S. 39) für die SD, Sipo oder Gestapo tätig, obwohl sie ebenso wahrscheinlich in den Landkreisverwaltungen oder sonstigen Behörden in die besetzten Gebiete abgeordnet worden sein könnten.

Trotz der Einschränkungen öffnet die Autorin die Perspektive auf die zentrale, aber von der Forschung bislang weitgehend ignorierte Gruppe der Erzeuger. Gerade weil sie für Mütter wie Kinder oft abwesend waren, blieben sie lange auch unsichtbar. Das hat Schmitz-Köster mit ihrem instruktiven Sachbuch nun geändert – und damit zugleich den Blick geweitet für weitere Nachforschungen.

Anmerkungen:
1 Georg Lilienthal, Der „Lebensborn e.V.“. Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik, Frankfurt am Main 2003.
2 Dorothe Schmitz-Köster, Kind L 364. Eine Lebensborn-Familiengeschichte, Berlin 2007; dies., „Deutsche Mutter, bist du bereit…“ Der Lebensborn und seine Kinder, Berlin 2010; dies., Lebensborn lebenslang. Die Wunschkinder der SS und was aus ihnen wurde, München 2012; dies., Raubkind – Von der SS nach Deutschland verschleppt, Freiburg im Breisgau 2018.

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